Cina, economia, politica, società Faz 05-10-08
Faz 05-10-08
Fünfjahresplan – China sucht Alternativen zum Wachstum um jeden Preis
07. Oktober 2005 – China dürfte vor einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel stehen: Nicht länger steht Wachstum um jeden Preis ganz oben auf der Tagesordnung. Angesichts wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung sieht sich die Führung der inzwischen siebtgrößten Volkswirtschaft der Erde gezwungen, den Abbau sozialer Ungerechtigkeiten, die Entwicklung der armen Provinzen des Westens und den Umweltschutz in den Mittelpunkt ihres Bemühens um den Zusammenhalt des Reichs der Mitte zu rücken.
Wenn die 300 Delegierten des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas an diesem Samstag zu ihrer Plenarsitzung zusammentreten, dann geht es nur vordergründig um die Ausarbeitung von Details des Elften Fünfjahresplans der wirtschaftlichen Entwicklung. In Wirklichkeit geht es um ein anderes, nachhaltigeres Wachstum Chinas.
Aufbau einer „harmonischen Gesellschaft”
Die staatliche Zeitung China Daily spricht vom Aufbau einer "harmonischen Gesellschaft" als "strategischem Ziel der Kommunistischen Partei". "Disharmonische Elemente sind der Wachstumsunterschied zwischen den entwickelten Provinzen an der Küste und dem unterentwickelten Westen, die wachsende Lücke zwischen denen, die haben, und denen, die nichts haben, die Umweltverschmutzung in den Städten und die Bestechung". Den Begriff der "harmonischen Gesellschaft" hatte Präsident Hu Jintao im Februar vor einem hochkarätig besetzten Seminar an der Parteischule eingeführt.
Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua stimmt die Bevölkerung rechtzeitig auf die Neuausrichtung ein: "Der Wechsel der Fokussierung kommt zum richtigen Zeitpunkt, da China mit der wachsenden Gefahr sozialen Aufruhrs konfrontiert ist. Sie wächst durch Ungleichheiten in der Entwicklung und Verteilung, Ungerechtigkeiten und Korruption." Ding Yuanzhu, Soziologe in Diensten der einflußreichen Staatlichen Entwicklungs- und Reformkommission umreißt die Richtung der Kurskorrektur: "Die Idee sozialer Harmonie spricht für die Entschlossenheit der Zentralregierung, ernsthafte soziale Probleme, ausgelöst durch unangemessene politische Entscheidungen und eine überhitzte Konjunktur, zu überwinden." Und er warnt unüberhörbar: "Eine sehr ernste soziale Krise entwickelt sich oft dann, wenn die wirtschaftliche Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht."
Die Schere bei der Einkommensentwicklung geht weiter auf
Peking kann es sich also nicht mehr leisten, nur noch auf die Wachstumsgeschwindigkeit zu achten, und dabei soziale Verwerfungen und eine Zerstörung der Umwelt in Kauf zu nehmen. Dies weiß die Führung der Partei. Das Durchschnittseinkommen in den Städten liegt mehr als dreimal so hoch wie dasjenige auf dem Lande. Schlimmer noch: Die Lücke öffnet sich von Jahr zu Jahr weiter. Beobachter erwarten, daß die Partei nun mehr Mittel freimacht, um denjenigen zu helfen, die vom offiziell genannten Durchschnittswachstum des Bruttoinlandsproduktes von 9,5 Prozent über die vergangenen 26 Jahre wenig gespürt haben. Höhere Ausgaben für Gesundheitsvorsorge und für Ausbildung sowie zusätzliche Subventionen der Bauern dürften die Eckpunkte des neuen Fünfjahresplanes werden.
Angesichts zunehmender Unzufriedenheit der Zurückgebliebenen und einer wachsenden Zahl von Protesten und Demonstrationen – offiziell zählte die Regierung 74.000 Proteste im vergangenen Jahr – muß die Führung fürchten, daß ihr 56 Jahre altes Machtmonopol in Gefahr geraten könnte. Genau dies deutet ein Bericht des Arbeitsministeriums aus dem August an, zumal er offen vom wachsenden Abstand zwischen Arm und Reich spricht.
Seit der Machtübernahme von Präsident Hu und Ministerpräsident Wen Jiabao 2003 versucht Peking gegenzusteuern, etwa durch die Abschaffung der Steuern für 730 Millionen Bauern. 11 Milliarden Yuan (1,1 Milliarden Euro) wurden offiziellen Angaben zufolge in Wiederbeschäftigungsprojekte gepumpt, 3 Milliarden in den Ausbau der Sicherheit am Arbeitsplatz. Die Zahl der Wanderarbeiter, die in die Städte strömen, ist auf 120 Millionen angewachsen. Und immer noch leben 26 Millionen Chinesen in absoluter Armut.
Text: che., Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Oktober 2005